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Im Blickpunkt: Systematische Ausbeutung im europäischen Straßengüterverkehr

Gemeinsam mit ihren Mitgliedsorganisationen in Europa arbeitet die ITF derzeit an der Aufdeckung der skandalösen Zustände, die hinter den Kulissen des europäischen Straßengüterverkehrs herrschen. Arbeitskräfte aus Osteuropa werden für Fahrtätigkeiten nach Westeuropa geholt, verdienen nicht mehr als 1,70 Euro pro Stunde, müssen bis zu acht Monate lang im Fahrerhaus ihrer Lkws schlafen, auf Parkplätzen waschen und kochen, haben nur eingeschränkt Zugang zu Toiletten und erhalten gefälschte Papiere, um den Behörden zu entgehen. Dabei befördern sie Güter für einige der erfolgreichsten und ertragsstärksten multinationalen Unternehmen der Welt.

Truck drivers live out of their trucks for months at a time

Die bittere Realität des europäischen Straßentransports

Massenausbeutung und unmenschliche Beschäftigungsbedingungen sind im europäischen Straßentransport weit verbreitet. Auf der Jagd nach Profiten um jeden Preis schlagen Unternehmen Kapital aus der hohen Nachfrage nach Straßentransportdienstleistungen. Sie berechnen großen multinationalen Unternehmen einen korrekten Preis für den Betrieb ihrer Lieferketten, geben das für die Dienste gezahlte Geld jedoch nicht angemessen an das Fahrpersonal weiter, das die Arbeit erledigt.

Stattdessen nutzen die Transportunternehmen gesetzliche Schlupflöcher, um ihr Personal unterzubezahlen und Fahrer*innen aus Osteuropa zu osteuropäischen Vertragsbedingungen zu beschäftigen, obwohl sie sie ausschließlich für Fahrten in Westeuropa einsetzen. Mit Hilfe dieses Geschäftsmodells können sie Löhne und Sozialbeiträge niedrig halten, während sie gleichzeitig Vorteil aus dem Recht aller EU-Bürger*innen ziehen, in ganz Europa zu arbeiten.

ITF inspectors on the road in Europe

In den letzten drei Jahren hat die ITF gemeinsam mit einigen ihrer europäischen Mitgliedsorganisationen Projekte finanziert, um Lieferketten und die Unternehmen, die sich derart ausbeuterischer Geschäftspraktiken bedienen, zu durchleuchten. In Feldstudien und Gesprächen mit Fahrer*innen haben wir ein einheitliches Muster für die gesamte Branche festgestellt.   

Die Löhne

Die meisten Fahrer*innen kommen aus Rumänien, Bulgarien und der Ukraine und erhalten Bruttolöhne zwischen 310 und 375 Euro im Monat. Dies entspricht einem Stundenlohn zwischen 1,76 und 2,13 Euro (unter Zugrundelegung eines Arbeitstags von acht Stunden und durchschnittlich 22 Arbeitstagen im Monat). Um zu verschleiern, dass die Vergütung der Fahrer*innen unter dem Mindestlohn liegt, erhalten sie zusätzlich ein Tagegeld in Höhe von 58 Euro netto. Dieses Tagegeld wird pauschal ausbezahlt und nicht dem Grundlohn zugerechnet, weshalb auch keine Sozialabgaben darauf zu entrichten sind. So basiert die Berechnung der Rentenbeiträge lediglich auf dem Grundlohn von (ca.) 300 Euro, was es den Fahrer*innen sehr schwer macht, in Rente zu gehen.

Truck drivers live in their cabs at all times of year

Das Tagegeld eingerechnet verdienen viele Fahrer*innen insgesamt nur 1.740 Euro im Monat. Ein in Westeuropa lebender Fahrer kann mit einem Monatseinkommen von über 2.000 Euro zuzüglich Tagegeld rechnen und genießt darüber hinaus die Vorteile einer lokalen Beschäftigung (z. B. den “Luxus”, die Wochenenden zuhause verbringen zu können). Osteuropäische Fahrer*innen sind über lange Zeiträume unterwegs, ohne ihre Familien zu sehen, und leben unter miserablen Bedingungen.

Die Bedingungen

Bei Recherchen während eines Wochenendes auf belgischen, deutschen und niederländischen Straßen schilderten mehrere Fahrer*innen der ITF ihren Überlebenskampf. Ein Fahrer, der für Girteka arbeitet (ein litauisches Unternehmen, das Waren für Unilever, Danone und Ikea befördert), sagte, er habe drei kleine Kinder zuhause und pendele sechs Monate lang ununterbrochen zwischen Norwegen und Portugal hin und her, ohne auch nur ein einziges Mal Urlaub zu bekommen, um seine Familie zu besuchen. Auf die Frage, ob er manchmal in Hotels übernachte, antwortete er, nein, er schlafe nur im Lkw.

Truck drivers drying their clothes

Vor einem großen Logistiklager in Deutschland trafen wir auf Fahrer, die im Schnee wuschen und kochten. Wir fragten sie, warum sie nicht die Einrichtungen innerhalb des Lagergebäudes benutzten. Daraufhin erklärten sie uns, das Unternehmen lasse sie nicht hinein. Ein Fahrer sagte, der einzige Ort, wo er eine Toilette benutzen könne, sei ein kleiner Laden, zehn Minuten Fußweg entfernt, aber dieser Laden schließe um 20.00 Uhr. Der Fahrer wartete auf diesem Platz das ganze Wochenende mit seinem Lkw darauf, seine Waren abladen zu können.

Auf einem großen Parkplatz an der deutsch-niederländischen Grenze, im Schatten großer, hochmoderner Millionen-Lagerhäuser von DSV, XPO, UPS und TNT verbringen Fahrer*innen aus ganz Osteuropa ihre wöchentliche Ruhezeit in ihren Lkws. Kochen und Waschen müssen sie im Freien. Die kleine Tankstelle (wie die meisten in Europa) verlangt 0,70 Euro für die Benutzung der Toilette, eine Ausgabe, die sich die Fahrer*innen bei einem Stundenlohn von 1,70 Euro nicht leisten können. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich hinter ihren Lkws oder im nahen Gebüsch zu erleichtern.

Truck drivers cook food in their trailer

Gibt es dagegen keine Gesetze?

Doch, die Europäische Union (EU) hat mehrere Richtlinien erlassen, die diese Praktiken für illegal erklären. Die Gesetze existieren also, werden aber kaum oder gar nicht durchgesetzt.

  • Laut den Vorschriften für den Kabotageverkehr dürfen Unternehmen innerhalb von sieben Tagen nicht mehr als drei Transportaufträge innerhalb eines anderen Mitgliedsstaats durchführen. Ohne ausreichende und ordnungsgemäße Kontrollen der Behörden überwiegen die finanziellen Vorteile, die die Umgehung der Vorschriften bringt, jedoch bei weitem das Risiko, geschnappt zu werden. Außerdem sind in diesem Falle die Geldstrafen geringer als die erzielten Gewinne. Die Verletzung der Kabotage-Vorschriften ist für Verkehrsunternehmen inzwischen zu einem Geschäftsmodell geworden.
  • Nach der Rom-I-Verordnung haben Beschäftigte Anspruch auf das Arbeitsentgelt des Landes, in dem sie gewöhnlich ihre Arbeit verrichten. Der gewöhnliche Arbeitsort der Beschäftigten im Straßentransport ist schwer zu definieren und kann mit gezielten Tricks leicht verschleiert werden.
  • Die Entsenderichtlinie zielt auf die Förderung des freien Dienstleistungsverkehrs und fairen Wettbewerbs ab und soll die Rechte der Arbeitnehmer*innen gewährleisten. Theoretisch bedeutet das, dass ein Arbeitnehmer, der für einen befristeten Zeitraum in ein anderes Land entsendet wird, den gültigen Mindestlohn des Landes, in das er entsendet wurde, geltend machen kann. Das führt in Ländern, die keinen gesetzlichen Mindestlohn haben, wie z. B. Schweden, zu Problemen. Hinzu kommt, dass die "Befristung" der Entsendung schwer definierbar ist. Der Europäische Gerichtshof berät derzeit darüber, ob die Entsenderichtlinie für den internationalen Güterkraftverkehr Geltung hat.
  • Nach der Verordnung über Lenk- und Ruhezeiten müssen Fahrer*innen mindestens einmal im Zeitraum von zwei aufeinander folgenden Wochen eine regelmäßige wöchentliche Ruhezeit nehmen. In einem früheren Urteil wurde explizit ausgeführt, dass sie diese 45-stündige Ruhezeit nicht in ihrem Fahrzeug verbringen dürfen. Manche Fahrer*innen kennen diese Vorschrift, ihre Durchsetzung genießt in den Mitgliedsstaaten jedoch keinen hohen Stellenwert. Die Unternehmen profitieren von der Verletzung dieser Vorschrift, da das Fahrpersonal damit länger am Steuer sitzen kann. Die hierdurch bewirkte Isolierung der Fahrer*innen in ihren Fahrerkabinen ist einer der gewinnbringendsten Aspekte ihres Geschäftsmodells.
  • Die Verordnung über Lenk- und Ruhezeiten schränkt ferner die Dauer der innerhalb eines Zeitraums von einem Tag, einer Woche oder vierzehn Tagen zulässigen Lenkzeiten ein. Die Daten werden auf einer im Lkw installierten Fahrerkarte erfasst. Um dies zu umgehen, ermutigen Arbeitgeber ihr Fahrpersonal, die Fahrerkarten zu entfernen, um die wirklichen Lenkzeiten zu verschleiern, womit sie sowohl die Fahrer*innen als auch andere Straßenverkehrsteilnehmer*innen in Gefahr bringen. Das Risiko, erwischt zu werden, ist jedoch gering, und selbst dann ist die Strafe im Vergleich zu dem Geld, dass dieser verbreitete Verstoß einbringt, vernachlässigbar.

Truck drivers use their trailers for shelter

Durchsetzung der Gesetze

Europäische Verordnungen bieten nur unzureichenden Schutz ohne ordnungsgemäße Durchsetzung durch die Mitgliedsstaaten. Diese lassen allerdings nur wenig Bereitschaft erkennen, größere Ressourcen für eine angemessene Überwachung der Vorschriften bereitzustellen.

Selbst in Ländern wie Frankreich, wo strengere Kontrollen durchgeführt werden, legen diese skrupellosen Verkehrsunternehmer einfach gefälschte Dokumente vor, um die Behörden zu täuschen. Nach französischem Recht muss für in Frankreich durchgeführte Fahrten der französische Mindestlohn gezahlt werden. Den Fahrer*innen werden jedoch falsche Papiere ausgehändigt, um vor den französischen Behörden zu belegen, dass sie französische Löhne verdienen – was in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Das ist zwar eindeutig rechtswidrig, aber aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, tun die Fahrer*innen, was von ihnen verlangt wird.

Fahrer*innen, die gegen ihren Arbeitgeber vorgehen wollen, müssen ihre Rechte kennen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob aus Osteuropa stammende Fahrer*innen sich der Gesetze, die sie theoretisch schützen sollen, in vollem Umfang bewusst sind. Und selbst dann ist es unwahrscheinlich, dass ein Fahrer es ohne angemessene juristische Beratung und Finanzmittel wagen würde, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen. Die meisten sind zu abhängig von ihrem Arbeitsplatz, um das Risiko auf sich zu nehmen, es alleine mit einem Arbeitgeber aufzunehmen.

Truck drivers have to do everything around their vehicle

Es geht noch schlimmer – Menschenhandel

Nicht zufrieden damit, aus den niedrigen Löhnen osteuropäischer Arbeitnehmer*innen Profite zu schlagen, werben Straßentransportunternehmen mittlerweile Fahrpersonal aus den Philippinen an. In den Stellenanzeigen heißt es, die Fahrer*innen erhielten 2.000 Euro im Monat, einen Flug nach Europa und Zutritt zu einer Wohnung.

Bei ihrer Ankunft ist von einer Wohnung keine Rede mehr, ihr Lohn beträgt 300 Euro im Monat, und die Flugkosten werden davon abgezogen. Sie sind gezwungen in der Fahrerkabine ihres Lkws zu leben, müssen Überstunden ohne angemessene Ruhezeiten leisten und werden von ihrem Arbeitgeber bedroht, wenn sie aussteigen wollen.

In den Niederlanden, Dänemark und Deutschland wurden ganze Gruppen philippinischer Fahrer*innen aus solchen Bedingungen gerettet, aber der Nachschub strömt weiter und die Vermittlungsagenturen schreiben diese Stellen nach wie vor aus. Aufgrund der Definition des "Menschenhandels" im europäischen Recht ist die strafrechtliche Verfolgung solcher Fälle kompliziert. Vor Gericht haben solche Klagen nur wenig Aussicht auf Erfolg, da die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ganz anders behandelt wird als Sex- oder Kinderhandel und sehr viel schwerer zu beweisen ist.

Ein philippinischer Fahrer, der aufgrund derart falscher Versprechungen nach Europa gekommen war, sagte bei der Befragung durch die ITF, er ziehe die Bedingungen in Saudi-Arabien vor, weil die Versorgung für Fahrer*innen dort besser sei.

Ein anderer Fahrer wurde bei einem Verkehrsunfall verletzt (die Lkws, die man diesen Fahrer*innen gibt, sind oft alt, defekt und reparaturbedürftig). Ohne ordentliche Krankenversicherung (die der Arbeitgeber nicht bietet) hatte er Angst, ein Krankenhaus aufzusuchen, weil er für die Behandlungskosten nicht aufkommen konnte.

Truck drivers use whatever space they can to prepare food

Was kann dagegen unternommen werden?

Die Unternehmen am oberen Ende der Lieferkette sind sich dieser Missstände entweder nicht bewusst oder sie nehmen sie schlichtweg nicht zur Kenntnis. Sie haben die Macht und den Einfluss, die Praktiken der Verkehrsunternehmen, die sich um ihre Aufträge bewerben, zu beeinflussen.

Sie können die Bedingungen in der gesamten Branche verbessern, indem sie einfach ihre Ausschreibungsverfahren ändern, Speditionen vor der Auftragsvergabe gründlich begutachten, Prüfungen und Kontrollen durchführen, um sicherzustellen, dass sie die Normen erfüllen, und Wiedergutmachungsverfahren für den Fall einführen, dass Unternehmen diese Normen verletzen. Verbunden mit der Organisierung der Fahrer*innen und dem Aufbau gewerkschaftlicher Stärke vor Ort geraten die Mittelsmänner, die von dem System profitieren, von oben und unten unter Druck.

Die Gewerkschaften in Europa können eine entscheidende Rolle bei der Durchführung der Felduntersuchungen spielen, die zur Untersuchung dieser ausbeuterischen Praktiken notwendig sind. Wir brauchen in den Gewerkschaften in ganz Europa zweckbestimmte Ressourcen, um vor Ort zu gehen, Parkplätze aufzusuchen, mit Fahrer*innen zu reden und die Lieferketten zu kartieren.

Durch die Sammlung von Beweisen können die wirtschaftlichen Arbeitgeber mit den Tatsachen konfrontiert und dazu bewegt werden, Änderungen herbeizuführen, die die Bedingungen in der gesamten Branche verbessern werden.

Je mehr Gewerkschaften Ressourcen für diese Maßnahmen bereitstellen, umso koordinierter und wirksamer können sie sein.

Die ITF bietet Gewerkschaften, die daran interessiert sind, dieser Feldarbeit Ressourcen zu widmen, Schulungen an. Für weitere Informationen wendet euch bitte an: usher_lauren@itf.org.uk 

 

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