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ITF begrüßt die Einflaggung neuer Schiffe in Liverpool, nimmt Atlantic Container Line aber für Crewwechsel in die Pflicht

NACHRICHTEN 11 Aug 2020

Liverpool ist der Heimathafen einer Reihe von Schiffen, die derzeit im Schiffsregister des Vereinigten Königreichs eingetragen werden, was darauf hindeuten könnte, dass der Inselstaat möglicherweise seinen Platz als führende Schifffahrtsnation wieder geltend machen wird. Aber Schifffahrtsgesellschaften werden mehr tun müssen, um den Ruf Großbritanniens inmitten der Crewwechsel-Krise aufrechtzuerhalten, meint der Inspektor der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) Tommy Molloy.

Im Oktober 2016 feierte der Hafen von Liverpool die Einflaggung eines neuen Schiffs, das zur Flotte der Atlantic Container Line (ACL) gehört. Es war eines von fünf Schiffen, das im Hafen von Liverpool registriert wurde. Zur Taufe des jüngsten Schiffs, der Atlantic Sea, kam damals die britische Prinzessin Anne in den Hafen. Es war das erste Mal seit 50 Jahren, dass ein Mitglied der königlichen Familie dort ein Schiff taufte. ACL-Geschäftsführer Ian Higby sagte, wenige Schiffe hätten in den letzten Jahren den Namen der berühmten Stadt getragen, und es sei gut, dass sie wieder ihren angestammten Platz einnehme.

Tommy Molloy ist jedoch der Meinung, dass ACL angesichts der aktuellen Crewwechsel-Krise die Heimschaffung seiner Seeleute in die Hand nehmen muss, wenn die Reederei den Standards der britischen Flagge gerecht werden und Liverpools Ruf als Hafen der Weltklasse hochhalten will.

"Das Unternehmen hatte in der Vergangenheit einen guten Ruf, und die Seeleute haben es geschätzt, dort beschäftigt zu sein. Aber es stimmt schon skeptisch, wenn Besatzungsmitglieder anonym um Hilfe bitten, um nach Hause zu ihren Familien zurückgeführt zu werden, und sich nicht trauen, ihre Identität preiszugeben. Die Seeleute an Bord der Schiffe von Atlantic machen sich offenkundig Sorgen, dass sie Folgen zu befürchten haben, wenn sie sich nach Ablauf ihrer Verträge weigern, weiterzuarbeiten," so Molloy.

Nach dem Seearbeitsübereinkommen hat ein Seemann das Recht, die Arbeit einzustellen und auf Kosten des Arbeitgebers heimgeschafft zu werden, wenn sein Vertrag abgelaufen ist. Die maximale Dienstzeit an Bord beträgt elf Monate.

Aber für 300.000 Seeleute, die nach Schätzungen der ITF an Bord ihrer Schiffe festsitzen, ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich geworden, dieses Recht wahrzunehmen. Weitere 300.000 Seeleute sind arbeitslos und warten verzweifelt darauf, die Besatzungen an Bord abzulösen. Die Hauptursachen der "Crewwechsel-Krise" sind die geschlossenen Grenzen von Hafen- und Transitländern und Herkunftsländern der Seeleute sowie der Mangel an Flügen.

Molloy zufolge haben viele Seeleute Angst, sich zu äußern, weil sie befürchten, nicht wieder angeheuert zu werden, und denken, sie haben keine andere Wahl, als immer wieder Vertragsverlängerungen zu unterzeichnen, selbst wenn sie damit gegen nationale und internationale Gesetze verstoßen.

Häufig muss die ITF eingeschaltet werden, um dafür zu sorgen, dass die Rechte der Seeleute eingehalten werden. Im Falle von Atlantic Container Line musste Molloy ein ganzes Netz von Eigentumsstrukturen und Auftraggebern entwirren, um der größtenteils von den Philippinen stammenden Besatzung zu ihrem Recht auf Ausschiffung zu verhelfen.

"Die Eigner des Schiffes sind als in den USA ansässig aufgeführt, die eingetragenen Eigentümer befinden sich in Schweden, das Mutterunternehmen in Italien und die Verwaltung in Monaco. Am 6. Juli habe ich zu mehreren von ihnen Kontakt aufgenommen, um sie zu fragen, ob sie vorhätten, diese Besatzung zu ersetzen, deren Vertragslaufzeit bereits bei der Ankunft in Liverpool, dem Heimathafen des Schiffes, überschritten war," erklärte Molloy.

In einer E-Mail hatte Molloy dem Unternehmen mitgeteilt, dass Seeleute in Großbritannien als systemrelevante Arbeitskräfte betrachtet würden und ihrer Abmusterung daher nichts m Wege stehe. Das Unternehmen entgegnete, dass es Probleme gebe, Flüge von und zu den Philippinen zu organisieren.

"Sie sagten mir, sie hätten vergeblich versucht, Flüge von Großbritannien nach Manila zu buchen. Ich suchte selbst und fand verfügbare, wenn auch teure, von Manchester und London abgehende Flüge. Ich schickte ihnen die entsprechenden Informationen und erklärte ihnen, sie hätten eine Fülle von Optionen, um diese Seeleute abzulösen – weltweit warteten 300.000 darauf, unter Vertrag genommen zu werden," berichtete Molloy.

"Sie sagten mir, dies sei aus betrieblichen und Einarbeitungsgründen unmöglich und nicht sicher. Ich wies sie darauf hin, dass die gesamte Branche empört sei, dass unkooperative Regierungen die unsichere Situation zuließen, Besatzungsmitglieder weit über deren Vertragsende hinaus an Bord festzuhalten. Manche dieser Seeleute sind seit einem Jahr nicht an Land gewesen – soll das etwa sicher sein?"

Dank der Bemühungen der ITF musterten am 19. Juli fünf Besatzungsmitglieder in Liverpool ab und wurden von bulgarischen Seeleuten abgelöst.

Wie Molloy berichtete, kamen die abgemusterten philippinischen Seeleute für mehrere Tage in einem Hotel unter, bevor sie in ihr Heimatland zurückflogen, um ihre seit Monaten vermissten Familien wiederzusehen.

Leider hatten aber nicht alle Besatzungsmitglieder das Selbstvertrauen, mit der Bitte um Heimschaffung den Zorn ihres Arbeitgebers zu riskieren. Molloy zufolge verließ das ACL-Schiff Liverpool in Richtung Kanada mit mehreren philippinischen Besatzungsmitgliedern, die seit fast 15 Monaten an Bord waren, weit länger als die neun Monate, für die sie ursprünglich angemustert worden waren.

"Sie hatten das ITF-Sekretariat in London kontaktiert, und unsere Inspektoren in Deutschland, Antwerpen und Liverpool baten uns, sie von Bord zu holen," so Molloy. "Aber das hatten die Seeleute anonym getan, ohne zu sagen, wer sie sind. Leider sind wir darauf angewiesen, dass Seeleute ihre Heimschaffung offen verlangen. Nur so können wir ihnen in Häfen wie Liverpool dabei helfen, von Bord zu gehen und für ihre Rückkehr nach Hause sorgen."

"Dass diese Seeleute sich nicht getraut haben, aufzustehen, um den Dienst einzustellen und um ihre Rückkehr nach Hause zu bitten, ist für die ITF sehr besorgniserregend. Uns beunruhigt ferner, dass einige Unternehmen die logistischen Probleme der aktuellen Krise womöglich als Vorwand nutzen, um Crewwechsel zu umgehen."

"Uns ist bewusst, dass Flüge momentan teuer sind. Deshalb setzen wir uns mit Hilfe der Regierungen dafür ein, mehr Flugverbindungen verfügbar zu machen. Aber teure Flüge sind kein Grund, die Heimschaffung von Seeleuten in der Hoffnung, dass sie vielleicht billiger werden, aufzuschieben. Arbeitgeber sind nach dem Seearbeitsübereinkommen dazu verpflichtet, Seeleute nach Ablauf ihrer Verträge heimzuschaffen – und auch während dieser Pandemie verdienen Arbeitgeber noch Geld. Weitere Verzögerungen wären für Seeleute nach der Loyalität und Geduld, die sie während dieser Krise gezeigt haben, ein Schlag ins Gesicht."

"Wir wissen, dass die Situation, an Bord dieser Schiffe festzusitzen, Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit von Seeleuten hat. Es ist nicht hinnehmbar und nicht vertretbar, sie weit länger als ursprünglich vereinbart von ihren Familien getrennt zu lassen, oft ohne Möglichkeiten zur Kommunikation. Ich vermute, dass Suizid momentan die Haupttodesursache für Seeleute ist. Arbeitgeber müssen jede sich bietende Chance nutzen, ihre Besatzungen abzulösen und heimzuschaffen, bevor es zu spät ist," so Molloy.

 

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